Alle Heiligen
Alle Heiligen – besser: die Gemeinschaft der Heiligen, feiern wir heute.
Um besser zu verstehen, was wir da tun, stellen wir drei Fragen: Wer gehört
zur Gemeinschaft der Heiligen? Was ist das für ein Typ von Gemeinschaft? In welchem Verhältnis stehen die Heiligen zu uns?
1. Wer gehört zur Gemeinschaft der Heiligen?
Wer gehört dazu? Die Antwort liegt in einer wunderschönen Formulierung im
Zweiten Hochgebet, auf die ich Sie einmal aufmerksam machen möchte. Sie findet
sich dort gegen Ende. Es heißt da:
„Vater, erbarme dich über uns alle, damit uns das ewige Leben zuteil wird,
in der Gemeinschaft mit der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, mit
deinen Aposteln und mit allen, die bei dir Gnade gefunden haben von Anbeginn
der Welt."
Wenn wir gewöhnlich von den Heiligen sprechen, dann denken wir in erster
Linie an diejenigen, die im Heiligenkalender stehen, wenn wir nicht gar denken,
daß die Heiligen dadurch entstehen, daß Menschen heilig gesprochen werden.
Aber: eine Heiligsprechung macht ja die Leute nicht heilig, sondern weist
nur auf sie hin und erlaubt die Verehrung. Und die, die im Kalender stehen,
das sind nur die, die zu ihrer Zeit eine besondere Wichtigkeit hatten für
das Leben der Kirche und sie in manchen Fällen noch haben. Aber über sie
hinaus gibt es unendlich viele andere Heilige, nämlich schon „seit Anbeginn
der Welt", das heißt: seit es Menschen gibt. Die Kirchenväter prägten das
Wort „ecclesia ab Abel". Damit wollten sie sagen, daß die Kirche begonnen
hat schon mit Adams Sohn Abel, dem ersten Gerechten, der ungerecht sein Leben
lassen mußte. In mancher Kirche werden neben den Heiligen des Neuen Testaments
auch die des Alten Testaments dargestellt, wie z.B. hier in St. Michael,
im Chor, oben. Aber darüber hinaus gibt es viele, viele andere Vollendete,
wie es das Hochgebet sagt: eben alle die, „die Gnade gefunden haben bei Gott".
Was heißt das, daß sie „Gnade gefunden" haben? In ihrer Not, nur verbraucht
zu werden, nur beurteilt zu werden, ja, sich selbst bloß zu verbrauchen und
zu verurteilen, haben sie den weiten Raum Gottes gefunden, in dem ein anderes
Gesetz herrscht als im gnadenlosen Kampf ums Dasein, eben Gnade: nämlich
Freundlichkeit, Entgegenkommen, ein bedingungsloses Ja, Heimat.
2. Was ist das für ein Typ von Gemeinschaft?
Es ist eine Gemeinschaft, wie wir sie uns gar nicht individualisierter vorstellen
können. Die Heiligen sind keine gestanzten Typen, sie sind keine Durchschnittsmenschen,
keine Produkte, wie man sie im Schlußverkauf von der Stange kauft. Die Heiligen,
das sind alle geprägte Persönlichkeiten und zwar nicht in erster Linie, weil
sie’s von Natur aus schon waren, sondern vor allem, weil sie geprägt worden
sind je individuell von Gott, der kein allgemeiner Gott ist, sondern jeweils
für jeden einzelnen seiner, in einer ganz persönlichen Weise.
Wir brauchen uns nur die Heiligen, soweit wir etwas Näheres von ihnen wissen,
nur daraufhin anschauen, oder eben auch Menschen, die wir kennen oder erlebt
haben, und sie so waren, daß uns spontan der Gedanke kam: Das ist etwas Ähnliches
wie ein Heiliger, eine Heilige. Dann wird uns klar: Das sind geprägte Individuen,
jeder eine Welt für sich. Und zugleich kann man sich keine Gemeinschaft vorstellen,
die intensiverwäre als die Gemeinschaft derer, die sich aus Gott heraus und
in Gott verbunden fühlen. Die Gemeinschaft des Gebetes, die Gemeinschaft
der gemeinsamen Anbetung verbindet wie nichts anderes. Weiteste Weite, die
ganze Menschheit umfassend, und tiefe individuelle Persönlichkeit, das ist
das Ideal des Christen. Es ist am deutlichsten realisiert in den Menschen,
die wir die Heiligen nennen. Freilich, so ganz perfekt auch nicht. Wir dürfen
uns nicht vorstellen, daß nicht auch die Heiligen noch einige Defekte gehabt
hätten, bevor sie in die Ewigkeit aufgenommen worden sind. Das ist ein Wahnbild.
Aber trotzdem, und um so tröstlicher für uns: sie haben die Vollendung gefunden.
3. In welchem Verhältnis stehen die Heiligen zu uns?
Sie sind vollendet, aber doch nicht so, daß sie sich selig abgeschlossen
wären. Nein, das Schicksal des Unvollendeten liegt ihnen am Herzen. Wie können
sie selig sein, wenn ihre Schwestern und Brüder hier auf der Erde noch kämpfen
und leiden? Nein, sie kämpfen und leiden mit ihnen. Das gilt sogar für Christus
in seiner Seligkeit, wie der Apostel Paulus sagt (Kolosserbrief 1,14): Die
Leiden Christi müssen hier auf Erden noch zum Vollmaß gebracht werden. Die
Vollendeten sind also intensiv uns zugewandt.
Und wir, ja wir sollten sie auch nicht vergessen. Ich denke, wir lernen das
im Lauf der Zeit, daß es uns nicht gelingt, allein, aus eigener Kraft zu
Gott zu kommen, allein zu glauben, allein zu hoffen. Nein! Wenn es uns gelingt,
ein Stück weit zu glauben und zu hoffen, dann nur, indem wir mitglauben dürfen,
mithoffen dürfen mit denen, die das konnten, jedenfalls besser konnten als
wir und die mit uns eine verborgene, aber unzerreißbare Gemeinschaft bilden.
Freilich schauen auf der anderen Seite auch Menschen, die angekommen sind,
voll Erwartung auf uns, und denken sich: Was wird aus dem Glauben, der die
Mitte unseres Lebens war und den wir weitergegeben haben, jetzt? Findet er
noch Liebhaber, finden wir noch Nachfolger? Finden sich heute Menschen, die
mit uns glauben, die mit uns hoffen? So schauen uns die Heiligen an.
Noch ein letzter Punkt scheint mir wichtig. Wer ist, im Verhältnis zwischen
den Vollendeten und uns, die Mitte und wer ist der Rand? Wer ist die Mehrheit,
wer ist die Minderheit? Wer hat die Zukunft? Wenn man drüber nachdenkt, kommt
etwas anderes heraus als das, was das spontane Gefühl nahelegt. Nicht wir
sind in der Mitte, sie sind es. Wir sind am Rand und wandern der Mitte zu.
Nicht wir, 5 oder 6 Milliarden Menschen, die gerade jetzt leben, sind die
Mehrheit. Seitdem es die Menschheit gibt, sind viel, viel, viel mehr Menschen
in diese Vollendung eingewandert als wir Menschen, die jetzt hier sind. Sie
sind die große Mehrheit und wir sind der Trupp, der nachkommt. Wir müssen
wohl uns bemühen, öfter daran zu denken. Die Zukunft liegt bei ihnen – unsere
Zukunft.
Wenn es so eine Zukunft nicht gibt, so eine Heimat, auf die hin alle zuwandern,
ja dann gibt es auch so etwas wie die Menschheit nicht, sondern dann gibt
es immer nur die, die grade mal leben und sich für die Menschheit halten
und wo es den einen gut geht und die anderen in alle Ewigkeit die Zeche gezahlt
haben werden. Die weltliche Gerechtigkeit, von der bei Lichte betrachtet
nicht viel zu halten ist, bleibt dann das Letzte. Wenn wir uns das klar machen,
dann geht unserem Herzen die Luft aus. Denken wir aber an das Licht und an
die Wärme, an die Freiheit und die gegenseitige Zuneigung, die in der Gemeinschaft
der Heiligen herrschen und daran, daß von dort der Ruf an uns geht: komm,
komm, komm, – dann geht uns das Herz auf, dann bekommen wir Luft und sagen
leise, aber voll Hoffnung: Ja, ja, ich komme!
Gerd Haeffner SJ