St. Michaelskirche München
Sonntag, 6. Mai 2001 (4. Ostersonntag im Jahreskreis C)
Prediger: P. Gerd Haeffner SJ


Autonomie


In jener Zeit sprach Jesus: „Ich bin der gute Hirt. Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Denn mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle, und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins." (Joh 10, 27-30)

„In jener Zeit": wann? Es ist nicht wichtig, wann und unter welchen Umständen Jesus solche oder ähnliche Worte zu seinen Lebzeiten in Palästina gesprochen hat. Wichtig ist, daß wir diese Worte heute an uns gerichtet empfinden. Es sind Worte nicht aus ferner Vergangenheit, sondern Worte aus der Gegenwart, in der der Auferstandene lebt und zu uns spricht. So, und nicht anders, sind sie jedenfalls vom Evangelisten Johannes gemeint. Deswegen werden diese Worte auch gerade in der Osterzeit vorgelesen.

Im alten Orient waren die Herden der wichtigste Besitz. Die großen Herren ließen ihre Herden nicht nur von anderen betreuen, sondern waren selbst Hirten. Deshalb wurden dann auch jene Könige, die nicht mehr selbst mit ihren Herden durch das Land zogen, sondern seßhaft waren, die „Hirten" ihres Volkes genannt. Das ging so weit, daß man Gottes Fürsorge und Leitung mit der Sorge eines Hirten um seine Herde vergleich. Kein Herrscher empfand diese Bezeichnung also als unpassend, und die Menschen verglichen sich gerne mit den kostbaren Schafen im Besitz eines guten Herrn.

Heute ist die Lage anders. Wer in unserer modernen Gesellschaft, in der auch die Landwirtschaft eine Form der Industrie geworden ist, hat noch eine erlebte Beziehung zu Schafen? Vor allem: wer möchte selbst mit einem Schaf verglichen werden, - einem Schaf, das einem gleich zusammen mit der Bezeichnung „dumm" einfällt? Wer fühlt sich nicht peinlich berührt, wenn er als Teil einer Herde angesprochen wird oder wenn Menschen mit dem Anspruch auftreten, seine Hirten – oder gar Oberhirten – zu sein? Die Zeiten haben sich gewandelt. Was „in jener Zeit" gesprochen wurde und heute ansprechen soll, spricht nicht mehr an oder weckt Widerspruch.

Diesen Widerspruch nicht ernst zu nehmen oder ihn gar zu verteufeln, ist nicht hilfreich; es ist auch unfair. Wer widerspricht, nimmt die Sache oft ernster als der, der zu allem Ja und Amen sagt.

Wovon, aus welcher Einstellung, lebt der Widerspruch gegen die Metapher vom Hirt und den Schafen? Er lebt aus dem Pathos der Autonomie. Autonomie ist eine der heiligen Formeln der modernen Zeiten. Was ist damit gemeint?

Das Wort „Autonomie" kommt aus dem Griechischen. In ihm stecken die Bestandteile: nómos = Gesetz und autós = selbst. Es bedeutet also „Selbstgesetzgebung". Autonomie hat zunächst einen politischen Sinn. Autonomie ist hier die Fähigkeit und das Recht, sich selbst Gesetze zu geben, statt sie von anderen aufgezwungen zu bekommen. Ein Volk, das sein Parlament frei wählen kann, hat diese Autonomie; ein Volk, das nach Gesetzen leben muß, die von fremden Autoritäten beschlossen worden sind, hat sie nicht. Vom politischen Feld ist die Idee der Selbstgesetzgebung hinübergewandert in den persönlichen Bereich. Niemand hat ursprünglich das Recht, einem erwachsenen Menschen vorzuschreiben, wie er leben soll; das ist seine eigenste, urpersönliche Sache.

Wenn man genau hinsieht, erkennt man, daß Autonomie zwei Seiten hat: zunächst fällt auf die negative, nach außen gerichtete: ich selbst, kein anderer; Abwehr der Übergriffe der anderen, Verteidigung der eigenen Freiheit nach außen. Dann aber geht einem vielleicht die andere Seite auf, die nach innen geht. Daß einem die Freiheit der Selbstbestimmung von außen zugestanden wird, stellt eine neue Aufgabe: was soll man mit seiner Freiheit machen? Denn wenn man, ungehindert von außen, sich selbst einfach seinen wechselnden Launen überläßt, dann ist das möglicherweise schlechter, als wenn man von außen zu einem vernünftigen Verhalten gezwungen wird. Man muß selbst zu einem vernünftigen Lebensstil finden, - sich selbst ein „Gesetz" geben, nach dem man sich richtet, damit das Leben nicht dahintorkelt, sondern ein Gepräge bekommt, – damit man sich selber zu einer Persönlichkeit bilden kann. Wie findet man so ein Gesetz, seinen persönlichen Lebensmaßstab? Der beiden wichtigsten Hilfsmittel für die Erkundung einer unbekannten Gegend sind Kompaß und Landkarte. Für die Suche nach dem persönlichen Lebensmaßstab heißt die Landkarte „Erfahrung" und der Kompaß „Gewissen". Und für die Benutzung beider braucht es den Einsatz der Vernunft. Wir alle wissen, daß diese Suche schwierig ist und daß ihr Weg von Irrtümern gesäumt ist.

Aber es ist noch eine andere Erfahrung, die uns klar macht, daß das Ideal der Selbstgesetzgebung ein hohes und anstrengendes Ideal ist. Wir erleben, daß wir selbst die gefährlichsten Gegner unserer eigenen Autonomie sind. Je nach den Umständen, werfen wir unsere Ideale über Bord, und überlassen uns willig anderen Mächten, die uns beherrschen: der Name dieser zwei Mächte ist „Angst" und „Gier", und die Ansatzpunkte ihrer Herrschaft sind zahllos. Es ist vor allem die Angst, die unsere Freiheit wegnimmt: aus Angst z.B., nicht dazuzugehören, machen wir vieles, was wir bei ruhiger Überlegung für dumm oder gar schlecht halten. Man läßt sich einreden, nur wenn man die Schuhe Marke X trägt, gehöre man dazu: dazugehören aber will man auf jeden Fall; also kauft man den Schrott und, noch dümmer, beurteilt man Mitmenschen danach, was für Klamotten (oder Autos, Reisen usw.) sie sich leisten können. Ein Teil der Werbebranche nimmt einem die Freiheit des eigenen Urteilsvermögens genau damit, daß sie einem Autonomie suggeriert: Beispiel: „Ich lasse mir nicht vorschreiben, mit welcher Crème ich meinen Körper pflege; ich nehme nur Marke Schmalzan."

Tausend andere, und natürlich viel ernstere Beispiele zeigen: Gerade noch auf unsere Selbstbestimmung pochend, haben wir die Möglichkeit dazu im nächsten Augenblick schon wieder verschenkt. Es ist noch nicht einmal so, daß wir uns untreu geworden sind. Es ist eher so, daß wir in uns nichts gesucht haben, dem wir treu bleiben könnten.

Autonomie ist ein hohes, steiles Ideal. Gehorchen, indem man sich einfach anpaßt, ist viel leichter. Autonomie ist freie Selbstgesetzgebung. Diese Freiheit kann uns niemand nehmen und niemand abnehmen, wir können sie nur selbst verschleudern oder selbst ergreifen. Aber wir können es nicht ganz allein, nicht ohne Hilfe. Wir können eine Selbstachtung nicht aufbauen und durchhalten ohne das Bewußtsein, daß uns einer achtet, den wir selbst achten können, - daß uns einer „kennt" und anerkennt. Wir können das Gesetz, das es wert ist, unser Lebensgesetz ist, nicht nur im eigenen Gewissen finden; wir brauchen auch eine vertrauenswürdige Stimme, auf die wir vertrauend hören können, – eine Stimme, die uns nicht unfrei, sondern frei machen will. Und wir können die Angst, den tragenden Kontakt mit der Menge zu verlieren, nur dann neutralisieren, wenn wir der Verheißung eines Lebens trauen, das schöner und kraftvoller ist als dasjenige, das in der Teilnahme an den Fleischtöpfen und der Absicherung im Sklavenhaus Ägypten besteht.

Zur Freiheit, zur wirklichen Autonomie, kann keiner getragen werden. Er muß den Weg selbst gehen. Zur Freiheit, zur wirklichen Autonomie, gelangt keiner nur aus eigenen Kräften. Er braucht dazu Hilfe von Freunden an seiner Seite. Er braucht dazu auch Hilfe vom „Hirten" hoch über uns und tief in uns, der spricht: „Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben."


Gerd Haeffner SJ