Über die „Feindesliebe"
„In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Euch, die ihr mir zuhört,
sage ich: liebt eure Feinde. Tut denen Gutes, die euch hassen, segnet die,
die euch verfluchen, betet für die, die euch misshandeln. Dem, der dich auf
die eine Wange schlägt, halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel
wegnimmt, lass auch das Hemd. Gib dem, der dich bittet, und wenn dir jemand
etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück. Was ihr von anderen erwartet, das
tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank
erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden.
Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo
ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet
Söhne des Höchsten sein, denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und
Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist." (Lukas 6, 27-38)
Es gibt eine indische Legende von einem Asketen, der im Wald lebte. Er hatte
mit allen Wesen Mitleid. Er schadete niemandem. Er aß nicht das Fleisch von
Tieren. Er half den Menschen, die zu ihm kamen, und als er eines Nachts einen
Tiger erbärmlich vor Hunger schreien hörte, ging er hinaus und ließ sich von
ihm aus Mitleid auffressen.
An diese Geschichte wurde ich erinnert beim Lesen der Worte Jesu, die uns
heute vorgetragen werden. Ist das etwas Ähnliches – oder ist es etwas Anderes?
Ist das nur etwas zum Erschrecken und Bewundern oder ist das auch etwas zum
Ernstnehmen? Denn es ist eine wunderbare Methode mit dem Bewundern. Sie hilft
einem, etwas nicht ernst nehmen zu müssen. Und wenn Jesus etwas sagt, werden
wir uns natürlich hüten, daran Kritik zu üben, und wir werden uns hüten, es
ernst zu nehmen.
Was ist gemeint? Ignatius sagt einmal, die Heilige Schrift setze voraus,
dass wir Verstand haben, wenn wir sie lesen. Da ist die Rede von Feinden und
Freunden und dazwischen gibt es offenbar nichts. Da ist die Rede vom Lieben
und vom Hassen und dazwischen gibt es offenbar nichts. Da spricht der alte
Orient mit seinen extremen Worten und seinen extremen Einstellungen. Da spricht
aber auch unser Gefühl, das oft genauso gegensätzlich und schwarz-weiss strukturiert
ist. Wir mögen jemanden oder wir hassen ihn. Schon wenn mir jemand zuvorkommt
beim Besetzen des Platzes in der U-Bahn, kann Hassgefühl in mir aufsteigen:
völlig irrational, wenn auch dann nachher gedämpft, zurückgedrängt. Unsere
ersten Gefühlsreaktionen sind eben so primitiv strukturiert: Freund – Feind,
Liebe – Hass. Das muss man im Sinn haben, wenn man Jesu verstehen will. Man
muss sie entsprechend differenzieren, wenn es auf die Praxis ankommt.
Wenn man betrachtet, wie die Worte Jesu in unserem Evangelientext der Reihe
nach kommen, hat man den Eindruck, dass sie gegen Ende immer akzeptabler werden.
Am Anfang das steht das extremste: „Liebet eure Feinde!". Das tönt unerträglich.
Das zweite klingt schon etwas gemäßigter: „Gib dem, der dich bittet!" Und
schließlich am gemäßigtsten, am vernünftigsten, das dritte: „Tu den anderen
das, was du selbst möchtest, dass sie dir tun."
Aber es beginnt eben mit diesem ungeheuer extremen Wort. Es ist ein Donnerschlag
in der Weltgeschichte, so etwas ist nicht gesagt worden vorher. Was ist damit
gemeint? Dass wir Sympathie haben sollen mit denen, die uns ans Leder gehen?
Dass wir alle Menschen in Liebe und Vereinigung umarmen sollen, weil doch
alle irgendwie so gut sind? Und das vielleicht deswegen, weil wir uns nicht
trauen, uns zu verteidigen? Das ist sicher nicht gemeint. Freund bleibt Freund
und Feind bleibt Feind, und vor dem Feind verteidigt man sich, so gut man
kann. Man hütet sich in jedem Falle. Was ist also gemeint?
Da fällt mir ein Wort ein, das der verstorbene Pater Tattenbach einmal aus
Guatemala mitgebracht hat von einem dieser geschundenen Indios, der ihm sagte:
„Ja freilich fahren sie mit uns Schlitten, aber so weit werden sie uns nicht
unterkriegen, dass wir sie auch noch hassen; das soll ihnen nicht gelingen."
Das ist gemeint. Dass man die Feinde sympathisch findet, dass man es wunderbar
findet, dass sie einen hassen, das ist natürlich unmöglich oder krank. Aber
dass man sich von ihnen nicht dazu pressen lässt, zu werden wie sie, nämlich
auch zu hassen, auch zu schikanieren, darum geht es, das meint Jesus. Er will
sagen: Wenn ihr seufzt unter ihnen, dann betet für sie. Dann verflucht sie
nicht, sondern zeigt eure eigentliche Stärke in diesem Kampf, euere Unabhängigkeit
von diesem Kampf und segnet sie. Dann, wenn einer in der Not zu dir kommt
und braucht dich, dann sage nicht, ha, Freundchen, jetzt habe ich dich, sondern
dann hilf ihm. Wer hat dann den Kampf gewonnen? Du.
Jesu Worte sind natürlich gesprochen vor allen Dingen in eine Zeit der Verfolgung
seiner Jünger hinein. Deswegen heißt es auch: Liebet eure Feinde. Was er verlangt,
ist eine Zumutung, eine ungeheure Zumutung. Aber es geht. Stephanus, der
Märtyrer der ersten Zeit, hat es gekonnt, als man ihn mit Steinen zugeschüttet
hat. Er dachte an das Beispiel Jesu und betete und fluchte nicht. Er betete:
Vater, vergib ihnen – sie wissen nicht, was sie tun. Und seitdem viele andere.
Es ist möglich. Es ist möglich, den Kreislauf von Hass und Hass, von Gewaltsamkeit
und ganz berechtigter, wie es scheint, Gegengewaltsamkeit, von Krieg und Rache
ein Ende zu setzen: den Schub der Gewalt sich amortisieren, auslaufen zu
lassen. Es ist möglich. Und wer das kann, der hat die eigentliche Macht. Das
ist die Macht Gottes in dieser Welt. Wer sich zu so etwas durchringt, der
heisst dann Sohn Gottes oder Tochter Gottes. Denn da wird die göttliche Macht,
die keine Panzermacht ist zum Drüberrollen, sondern die Macht der Liebe,
die sich durch nichts irre machen lässt in dieser Welt, offenbar.
Eine menschliche Gesellschaft beruht auf dem Ausgleich von Interessen: Gibst
du mir, geb‘ ich dir. Und zwar nur dann. Bekomme ich auf die Dauer nichts
zurück, gebe ich auch nichts. Wird das Schlechte nicht bestraft, nimmt es
überhand. Wird das Gute nicht belohnt, stirbt es ab. Und nach diesem Muster
hangeln sich die menschlichen Gesellschaften durch die Zeit, schlecht und
recht. Schlecht, weil es genug Leute gibt, die bei all diesen raffinierten
Maßnahmen eines Staates mit seinen Gesetzen und Sanktionen doch durch die
Lücken schlüpfen und profitieren und Gewalt ausüben, ohne bestraft zu werden.
Da braucht es auf der andern Seite die, die freiwillig mehr tun. Der Mensch
mag sagen: „Das kann man doch mir nicht zumuten, dass ich für meine Feinde
auch noch bete!" Nein, das kann man Ihnen nicht zumuten. Aber Sie können es
vielleicht sich zumuten; Sie muten sich doch auch den Namen Christi zu. Wenn
Sie hinschauen, wie es er gemacht hat, und wenn Sie daran denken, dass das
die Art Gottes ist, durch die allein wir Hoffnung haben können, durch die
allein wir mitsamt unserer Schlechtigkeit und Halbherzigkeit Hoffnung haben
können, weil Er so ist wie Er ist, – und wie wir, wenn wir wollen – schlecht
und recht, aber doch ein Stück – auch sein können, sein dürfen.
Wollen Sie dazugehören?
Gerd Haeffner SJ